In Zollikofen BE kollidierten am 2. Juni 2022 zwei in Vielfachtraktion zusammengekuppelte und als Lokzug der BLS Cargo AG verkehrende Lokomotiven mit ca. 70 km/h mit dem Zugschluss eines abfahrbereiten Güterzuges, der aus Sonderfahrzeugen für Gleisbauarbeiten bestand.
Schnell wurde bekannt, dass der Lokzug mit ausgeschalteter Zugbeeinflussungseinrichtung verkehrte. Dies würde erklären, warum Halt- und Warnung zeigende Signale mit hoher Geschwindigkeit ohne Reaktion des Lokführers überfahren werden konnten. Der Lokführer hatte sich zum Glück nur leicht verletzt.
Zur Kollision in Zollikofen BE vom 2. Juni 2022 hat der VSLF im Newsletter vom 15. August 2022 (Nr. 723) und vom 23. August 2022 (Nr. 725) ausführlich informiert.
Zunehmende Gefahren
Da die Zuverlässigkeit des ZUB / ETM nicht diejenige des Signum-Integra erreichte, musste vermehrt ohne Zugbeeinflussung gefahren werden. Die Ursache lag vielfach in der Zuverlässigkeit elektronischer Bauteile, welche bei Signum-Integra nicht in dem Umfang notwendig waren. Moderne ETCS-only Fahrzeuge sind dementsprechend noch störungsanfälliger, nach Ausschalten der ETCS-Komponente sind meistens gar keine Sicherheitssysteme mehr aktiv. Gegenseitige Redundanzen wie früher bei ZUB und Integra fehlen vollständig.
Diese Umstände erhöhen, zusammen mit dem immer dichteren Verkehr, das Risiko für Unregelmässigkeiten im Bahnbetrieb. Zumal bei ETCS-only Fahrzeugen nicht einmal Halt zeigende Signale mehr einen Zug bremsen, wie der Fall Zollikofen zeigt.
Risiko seit langem bekannt
Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST veröffentlichte einen summarischen Bericht zu einem Vorfall vom 29. November 2017, bei welchem eine Lok mit defektem ZUB mehrmals nacheinander die Instandhaltungsanlage verliess. Ein Lokführer, welcher sich erst weigerte diese Lok zu übernehmen, wurde mit der Aussage der Lokleitung unter Druck gesetzt: "dass keine andere Lok zur Verfügung stehe und er die Lok mit gestörter Zugbeeinflussung dennoch übernehmen müsse, da die bei einer Störung an der Zugbeeinflussung geltende Frist von maximal 12 Stunden noch nicht abgelaufen sei. Ansonsten würde der Zug ausfallen" Im Verlauf seines Dienstes überfuhr er zwei Halt zeigende Signale, zum Glück ohne unmittelbar Gefährdungen.
Diese geschilderten Punkte zeigen auf, dass:
- die für die Sicherheit und die Vorschriften verantwortlichen Stellen der SBB sich im Klaren sind über das zunehmende Risiko-Potenzial.
- in der Praxis kein zweiter Lokführer gemäss FDV organisiert wurde und dies auch nicht spezifisch vorgeschrieben war.
- die Missstände dem Bundesamt für Verkehr BAV als Aufsichtsbehörde bekannt sein musste, nicht zuletzt wegen dem summarischen Bericht der schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST und der Eingabe des VSLF.
Konflikte in den bisherigen Vorschiften
Die Grundvorschrift des BAV in den FDV zu ausgeschalteten Zugbeeinflussungen ist unlogisch, unterschiedlich interpretierbar und wird in den jeweiligen Vorschriften der Bahnen unterschiedlich angewendet. So kann beispielsweise ein Zug mit defekter Sicherheitseinrichtung bei SBB Personenverkehr von Zürich HB nur noch bis Altstetten gefahren werden, da Altstetten ein Depotstandort ist. Bei SBB Cargo International kann von Basel bis Domodossola gefahren werden, da der Zug keinen Depotstandort durchfährt. Die ursprüngliche 12-Stunden-Regelung ist ohnehin nicht plausibel begründbar; würde die Sicherheit ernst genommen, wäre höchstens eine Fahrt in die Unterhaltsanlage vertretbar.
Dass jede EVU ihre Ausführungsbestimmungen intern selber regelt, führte zu unterschiedlichen Vorschriften und Vorgehensweisen auf demselben Schienennetz.
BLS Cargo reagiert nach Unfall in Zollikofen
Mit Inkraftsetzung am 1. September 2022 hat die BLS Cargo die Vorschriften zur Fahrt mit ausgeschalteten oder defekten Zugbeeinflussungssystemen in ihrem Bereich neu geregelt. Diese wurde massiv verschärft und legt nun zurecht eine konsequente Priorität auf die Sicherheit mit Einbezug der Verantwortlichkeit des Lokführers.
- Neu gilt bei BLS Cargo grundsätzlich, dass bei ausgeschalteter Zugbeeinflussung ein zweiter, streckenkundiger Lokführer notwendig ist. Neu ist mit dieser Regelung die maximal erlaubte Geschwindigkeit auf v-max 80 km/h begrenzt.
- Ohne eine Begleitperson darf nur noch bis zum nächsten Lokpersonalstandort resp. Instandhaltungsstandort gefahren werden. Die Höchstgeschwindigkeit wird auf v-max 40 km/h reduziert.
- Abfahrten vom Abstellort oder Lokpersonalstandort sind nur mit einem zweiten Lokführer erlaubt.
- Abfahrten ab einem Instandhaltungsstandort sind untersagt.
Mit Inkraftsetzung per 12. Februar 2023 hat die SBB für ihre Bereiche für die Fahrzeuge praktisch die identischen Vorschriften der BLS übernommen. Dies acht Monate nach dem Unfall und fünf Monate nach der BLS.
Aufsicht über sicherheitsrelevante Vorschriften
Dass nach dem Unfall von Zollikofen jede Bahn für sich an denselben Vorschriften arbeitet und zeitlich versetzt, wie auch inhaltlich unterschiedliche Vorschriften erlassen, ist nicht logisch und der Sicherheit abträglich. Einheitliche, klare Regeln sind unabdingbar. Es zeigt sich, dass verschiedenste Abteilungen an derselben Fragestellung arbeiten und damit zusätzlich zum Vorschriften-Dschungel auch noch grosse Kosten generieren. Eine zentrale, kompetente Stelle für den Erlass dieser Vorschriften ist überfällig.
Sicherheit ist das wichtigste Gut der Eisenbahn
Unabhängig der Vorschriften sollte bei Zweifel und Unsicherheiten die Fahrt nicht gestartet werden. Die meisten involvierten Dienste sind diesbezüglich einzig der Produktivität und der pünktlichen Betriebsabwicklung verpflichtet. Der Entscheid und die Verantwortung für die Reisenden, die Güter und die Unternehmung liegt schlussendlich bei uns Lokführern.
VSLF, Nr. 754, 17. Februar 2023 OM